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Untergang der Titanic: Spurensuche in Halifax
Vor mehr als 100 Jahren sank die RMS Titanic. Die meisten der Passagiere, die damals tot geborgen wurden, fanden im kanadischen Halifax ihre letzte Ruhe. Heute ist die Hafenstadt in Nova Scotia ein Treffpunkt für Titanic-Touristen.
"Ich wollte den beiden College-Mädchen nicht noch einmal das Herz brechen und die Wahrheit erzählen." Glenn Taylor, dickbäuchig und grauhaarig, steht neben dem Grabstein mit der Gravur "J. Dawson" auf dem Fairview-Lawn-Friedhof in Halifax. "Regisseur James Cameron fand", so der Touristenguide, "das klingt gut, also lass ihn uns Jack Dawson nennen. Und schon hatte der Hauptdarsteller für Camerons Film 'Titanic' einen Namen."
Als der Blockbuster 1997 in die Kinos kam, begann für die Friedhofswärter ein neuer Arbeitsalltag. Täglich mussten sie tonnenweise Plüschtiere, Blumen, Spielzeug und Liebesbriefe wegkarren, um J. Dawsons Grabstein wieder und wieder freizulegen. Jack Dawson, gespielt von Leonardo DiCaprio - davon wurde ein Millionenpublikum auf Kinosesseln Zeuge - schied, geklammert an eine Holzplanke, in eiskaltem Wasser aus dem Leben.
Der Fairview Lawn Cemetery aber wurde hierdurch zur Pilgerstätte für eine Trauer unter falschen Vorzeichen. "Denn was viele nicht wissen: Unter diesem Grabstein hier liegt ein Dawson begraben, der nicht den Vornamen Jack, sondern Joseph trägt. Er schippte tief im Bauch der Titanic die Kohlen. Aber den beiden weinenden College-Mädchen am Grabstein konnte ich das unmöglich offenbaren." Taylors Blick senkt sich zu Boden.
Die Andächtigkeit gelingt dem Guide ganz gut dafür, dass er seine Geschichten zu den oft zur größten Schiffstragödie stilisierten Geschehnissen in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 schon zum x-ten Mal erzählt: "Stellen Sie sich vor: Es war eine klare Nacht, das Wasser eiskalt. Warum sollte ich von einem unsinkbaren Schiff in eine kleine Nussschale von Rettungsboot steigen und in das schwarze Nichts rudern?" Als wenn sie Kirchenbänke zum Gebet drückten - seine Zuhörer sind mucksmäuschenstill und blicken aufs Gras.
Nachdem die Titanic gegen 23.40 Uhr einen Eisberg gerammt hatte, vergingen zwei Stunden und 40 Minuten, bis sich der dunkle Wasserspiegel für immer über ihr schloss. Dennoch überlebten nur 710 der insgesamt 2.228 Menschen an Bord des damals größten Passagierschiffs der Welt und konnten später von der heraneilenden RMS Carpathia aufgenommen werden.
Es waren nicht genügend Rettungsboote an Bord. Die letzten wurden überfüllt zu Wasser gelassen. Doch die ersten wurden unterbesetzt abgeseilt, da viele, vom Vertrauen in die moderne Technik geblendet, den Untergang lange Zeit ausschlossen, selbst als sich der Bug unter der Last des eindringenden Wasser schon in die eisigen Fluten senkte. Darin sind sich etliche der vielen Hundert zur Titanic erschienen Bücher einig.
Heute halten wegen der Geschehnisse vor 100 Jahren täglich Doppeldeckerbusse mit Besuchergruppen vor der Friedhofspforte. Mit gedämpfter Stimme sagt Taylor vor wechselnden Grabsteinen und Gästen dann immer wieder: "Ich möchte Sie noch einer anderen Person vorstellen."
Zu Helden erklärt er etwa John Law Hume, Violinist der Schiffsband, die auf der sinkenden Titanic selbst noch gespielt haben soll, als die Lichter ausgingen. Oder William Denton Cox, Steward: "Er begab sich zweimal runter in die tief im Schiff verborgenen Kabinen der dritten Klasse, um Menschen hochzuholen und in die Rettungsboote zu verfrachten. Dass die Besatzung nur ihre eigene Haut retten wollte, dieses Gerücht stimmt einfach nicht."
Der Friedhof ist zu einer der größten Touristenattraktionen von Halifax geworden und Halifax selbst - neben dem irischen Belfast, wo die Titanic in der Werft Harland&Wolff gebaut wurde - zu der Titanic-Stadt schlechthin. Denn hier liegen die meisten der geborgenen Opfer begraben. 121 recht gleichförmige Grabsteine stechen wie graue Zähne aus dem Gras von Fairview Lawn hervor.
Noch zwei andere Friedhöfe gibt es in Halifax, auf denen 29 weitere Opfer unter die Erde gebracht wurden, der Mount Olivet Cemetery und der jüdische Baron de Hirsch Cemetery. "Nicht in New York, dem Ziel der Jungfernfahrt, sondern in Halifax endete die Reise", sagt ein Taxifahrer.
"Halifax, das war der nächste Festlandhafen zur Untergangsstelle, deshalb wurde alles von hier aus organisiert." Alan Ruffman ist Geologe und vermisst im Hauptberuf den Meeresboden. Er war in den 1980ern an einer erfolglosen Suchaktion nach dem Titanic-Wrack beteiligt. In dem Buch 'Titanic Remembered: The Unsinkable Ship and Halifax' hat er sämtliche Orte in Neuschottlands Hafenstadt zusammengefasst, die irgendetwas mit der Schiffstragödie zu tun haben.
Auf der Mayflower Curling-Eisbahn wurden viele der insgesamt 328 Geborgenen, von denen 209 an Bord der CS MacKay-Bennett nach Halifax kamen, aufgebahrt, nummeriert, fotografiert und zu Zwecken der Identifikation auf Tattoos, Narben oder Schmuck untersucht. Andere wurden seebestattet.
Das Kabelschiff hatte die Titanic-Reederei White Star Line für die Bergungsaktion gechartert. Die Eisbahn steht heute nicht mehr, sie wurde bei einer anderen Tragödie in der Geschichte der Stadt, der Halifax Explosion, 1917 zerstört. "Und die MacKay-Bennett wurde 1962 abgewrackt", sagt Ruffman.
Die Kirchen, in denen Gedenkgottesdienste abgehalten wurden, können dagegen noch besucht werden. In der ältesten protestantischen Kirche Kanadas, der Saint Paul's Church in der Argyle Street wurde am 21. April 1912 ein Gedenkgottesdienst abgehalten, ein anderer für katholische Opfer in der Saint Mary?s Basilica. Die vielleicht traurigste Gedenkfeier aber wurde in der St. George?s Round Church veranstaltet.
In dem hölzernen Rundbau fand sich die Besatzung der MacKay-Bennett ein, um dem "unknown Child", dem unbekannten Kind, das letzte Geleit zu geben. Die Crew hatte den Jungen, dessen Alter zunächst auf 9 bis 15 Monate geschätzt wurde, als eines der wenigen tot geborgenen Kleinkinder sechs Tage nach dem Untergang in einer Rettungsweste leblos treibend aus den eisigen Fluten gezogen. Erst vor wenigen Jahren wurde es mittels einer DNA-Analyse von Forschern der Lakehead University in Ontario letztlich als Sidney Leslie Goodwin aus England identifiziert.
Die braunen Lederschuhe des damals 19 Monate alten Jungen können heute hinter Glas in einer Titanic-Ausstellung im Maritime Museum of the Atlantic in Halifax betrachtet werden, wo auch ein Liegestuhl "als
größtes erhaltenes Artefakt" zu sehen ist. 1912 nahm sie ein Polizist an sich, der dabei half, die Habseligkeiten der Opfer vor Souvenirjägern zu schützen. Dann verschwand das Schuhwerk über Jahre in einer Schublade, bis es der Enkel des Polizisten 2002 dem Museum stiftete.
"Wenn ich die Geschichten über die Titanic den Leuten erzähle, werden sie emotional - als wären die eigenen Verwandten an Bord gewesen." Bob Corkum, der regelmäßig Gäste durch die Ausstellungen des Museums führt, kann den Mythos Titanic nicht ganz verstehen. Er zieht die Augenbrauen hoch: "Denken Sie nur an die Wilhelm Gustloff. Bei der Versenkung des deutschen Flüchtlingsschiffes kamen 1945 über 9.000 Menschen ums Leben." Sechs Mal mehr als beim Untergang der Titanic.
Mit Alan Ruffman sitzt der Mann mit der Pfeife und den gelben Zähnen im Keller einer Studentenkneipe in Halifax bei Bier und Kabeljau. Die beiden zusammen bilden so etwas wie die geballte Titanic-Kompetenz der Stadt. Denn auch Garry befasst sich seit Jahren mit dem "Titanic Desaster". Als Archivar bei den Nova Scotia Archives, einer Unterabteilung des Amtes für kulturelles Erbe in Halifax, stellt er aus der Vergangenheit ins Jetzt gerettete Dokumente der großen Rettungsaktion von 1912 online. Listen der Geborgenen und Dokumente zu ihrer Identifizierung, Briefe, historische Fotos, die etwa die Bergungsaktionen auf See zeigen, Visitenkarten.
"Als die Titanic unterging, wechselte die Hälfte des damaligen amerikanischen Vermögens den Besitzer." An Bord waren neben John Jacob Astor, dem damals reichsten Mann der Welt, auch andere steinreiche Unternehmer, darunter Benjamin Guggenheim, Entrepreneur aus Philadelphia, Charles Hays, Präsident der kanadischen Grand Trunk Railway und George Wright aus Halifax, in dessen ehemaligen Haus Shutlack heute wohnt. Sie alle ertranken. Nur Bruce Ismay, der Direktor der White Star Line, stahl sich in eines der Rettungsboote, obwohl galt "Frauen und Kinder zuerst." Er starb 1937.
Als hätte die Titanic erst gestern einen Eisberg gerammt: Bei der Frage, wer Schuld hatte an dem Untergang des Ozeanriesen, kommen sich die beiden Experten fast in die Haare. "Wenn Du jemanden die Schuld geben willst, dann gib sie der Funker-Crew, sie gaben die Eiswarnungen nicht an die Brücke weiter und waren nur mit den Telegrammen der Passagiere beschäftigt", sagt Shutlack. Ruffman widerspricht: "Eine Meldung erreichte sehr wohl den Kapitän, er hätte die Geschwindigkeit drosseln müssen."
Ob die Unglücksfahrt vor 100 Jahren einer einzigen Person angelastet werden kann? Dass sich der Fortgang der Dinge von den Menschen nach Belieben gestalten ließe, dieser Fortschrittsglaube fand nach Ansicht von Museumsführer Bob Corkum mit dem Untergang der Titanic ein abruptes Ende: "Manche sagen nicht ganz zu unrecht: Das 20. Jahrhundert hat nicht am 1. Januar 1900 begonnen, sondern am 15. April 1912."
AMERICA TIPPS
Titanic und Halifax
Informationen: Nova Scotia Tourism, Schwarzbachstrasse 32, 40822 Mettmann, Tel. 02104 - 79 74 54, www.novascotia.com, www.travelmarketing.de
Reisetipps zu Halifax: www.destinationhalifax.com
Material rund um die Titanic und Halifax gibt es auf http://titanic.gov.ns.ca/
Im Maritime Museum of the Atlantic in Halifax ist die ständige Ausstellung "Titanic: The unsinkable Ship and Halifax" zu sehen. Noch bis Oktober 2012 läuft die Ausstellung "Cable Ships" über die Kabellegeschiffe aus Halifax und ihre Bergungsarbeit auf See. http://museum.gov.ns.ca/mmanew
Vor dem Museum starten regelmäßig Doppeldeckerbusse zu ?Titanic?-Touren, Anbieter ist zum Beispiel Ambassatours Sightseeing (www.ambassatours.com). Die 75-Minuten-Tour mit Ziel Fairview Lawn Cemetery kostet 28 kanadische Dollar plus Tax.
Der Taschen Verlag bietet ein Titanic-Modell zum Selberbauen im Maßstab 1:1200, mit einer Gesamtlänge von 135 cm. ISBN 978-3-8365-3082-8, für 9,99 Euro.
Vorzügliche Fischgerichte können im Restaurant & Grill Five Fishermen verköstigt werden (www.fivefishermen.com). Die Verbindung zur Titanic besteht darin, dass im gleichen Gebäude einst das Bestattungsunternehmen John Snow & Co. Funeral Home untergebracht war. Hier wurden zwei Titanic-Opfer aufgebahrt: John Jacob Astor, einer der damals reichsten Männer der USA, und der kanadische Eisenbahnmogul Charles M. Hayes.
Das Bedford Institute for Oceanography (www.bio.gc.ca) vermittelt Besuchern in einer Ausstellung, wie das Wrack der Titanic in 3.800 Metern Tiefe heute aussieht.
"Ich wollte den beiden College-Mädchen nicht noch einmal das Herz brechen und die Wahrheit erzählen." Glenn Taylor, dickbäuchig und grauhaarig, steht neben dem Grabstein mit der Gravur "J. Dawson" auf dem Fairview-Lawn-Friedhof in Halifax. "Regisseur James Cameron fand", so der Touristenguide, "das klingt gut, also lass ihn uns Jack Dawson nennen. Und schon hatte der Hauptdarsteller für Camerons Film 'Titanic' einen Namen."
Als der Blockbuster 1997 in die Kinos kam, begann für die Friedhofswärter ein neuer Arbeitsalltag. Täglich mussten sie tonnenweise Plüschtiere, Blumen, Spielzeug und Liebesbriefe wegkarren, um J. Dawsons Grabstein wieder und wieder freizulegen. Jack Dawson, gespielt von Leonardo DiCaprio - davon wurde ein Millionenpublikum auf Kinosesseln Zeuge - schied, geklammert an eine Holzplanke, in eiskaltem Wasser aus dem Leben.
© Stefan Weißenborn
Führung auf dem Fairview Lawn Cemetery.
Wie auf der Kirchenbank
Der Fairview Lawn Cemetery aber wurde hierdurch zur Pilgerstätte für eine Trauer unter falschen Vorzeichen. "Denn was viele nicht wissen: Unter diesem Grabstein hier liegt ein Dawson begraben, der nicht den Vornamen Jack, sondern Joseph trägt. Er schippte tief im Bauch der Titanic die Kohlen. Aber den beiden weinenden College-Mädchen am Grabstein konnte ich das unmöglich offenbaren." Taylors Blick senkt sich zu Boden.
Die Andächtigkeit gelingt dem Guide ganz gut dafür, dass er seine Geschichten zu den oft zur größten Schiffstragödie stilisierten Geschehnissen in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 schon zum x-ten Mal erzählt: "Stellen Sie sich vor: Es war eine klare Nacht, das Wasser eiskalt. Warum sollte ich von einem unsinkbaren Schiff in eine kleine Nussschale von Rettungsboot steigen und in das schwarze Nichts rudern?" Als wenn sie Kirchenbänke zum Gebet drückten - seine Zuhörer sind mucksmäuschenstill und blicken aufs Gras.
© Nova Scotia Tourism
Grab von Dawson.
Helden der Besatzung
Es waren nicht genügend Rettungsboote an Bord. Die letzten wurden überfüllt zu Wasser gelassen. Doch die ersten wurden unterbesetzt abgeseilt, da viele, vom Vertrauen in die moderne Technik geblendet, den Untergang lange Zeit ausschlossen, selbst als sich der Bug unter der Last des eindringenden Wasser schon in die eisigen Fluten senkte. Darin sind sich etliche der vielen Hundert zur Titanic erschienen Bücher einig.
Heute halten wegen der Geschehnisse vor 100 Jahren täglich Doppeldeckerbusse mit Besuchergruppen vor der Friedhofspforte. Mit gedämpfter Stimme sagt Taylor vor wechselnden Grabsteinen und Gästen dann immer wieder: "Ich möchte Sie noch einer anderen Person vorstellen."
Zu Helden erklärt er etwa John Law Hume, Violinist der Schiffsband, die auf der sinkenden Titanic selbst noch gespielt haben soll, als die Lichter ausgingen. Oder William Denton Cox, Steward: "Er begab sich zweimal runter in die tief im Schiff verborgenen Kabinen der dritten Klasse, um Menschen hochzuholen und in die Rettungsboote zu verfrachten. Dass die Besatzung nur ihre eigene Haut retten wollte, dieses Gerücht stimmt einfach nicht."
Endstation Halifax
Der Friedhof ist zu einer der größten Touristenattraktionen von Halifax geworden und Halifax selbst - neben dem irischen Belfast, wo die Titanic in der Werft Harland&Wolff gebaut wurde - zu der Titanic-Stadt schlechthin. Denn hier liegen die meisten der geborgenen Opfer begraben. 121 recht gleichförmige Grabsteine stechen wie graue Zähne aus dem Gras von Fairview Lawn hervor.
Noch zwei andere Friedhöfe gibt es in Halifax, auf denen 29 weitere Opfer unter die Erde gebracht wurden, der Mount Olivet Cemetery und der jüdische Baron de Hirsch Cemetery. "Nicht in New York, dem Ziel der Jungfernfahrt, sondern in Halifax endete die Reise", sagt ein Taxifahrer.
"Halifax, das war der nächste Festlandhafen zur Untergangsstelle, deshalb wurde alles von hier aus organisiert." Alan Ruffman ist Geologe und vermisst im Hauptberuf den Meeresboden. Er war in den 1980ern an einer erfolglosen Suchaktion nach dem Titanic-Wrack beteiligt. In dem Buch 'Titanic Remembered: The Unsinkable Ship and Halifax' hat er sämtliche Orte in Neuschottlands Hafenstadt zusammengefasst, die irgendetwas mit der Schiffstragödie zu tun haben.
Traurige Gedenkfeier
Auf der Mayflower Curling-Eisbahn wurden viele der insgesamt 328 Geborgenen, von denen 209 an Bord der CS MacKay-Bennett nach Halifax kamen, aufgebahrt, nummeriert, fotografiert und zu Zwecken der Identifikation auf Tattoos, Narben oder Schmuck untersucht. Andere wurden seebestattet.
Das Kabelschiff hatte die Titanic-Reederei White Star Line für die Bergungsaktion gechartert. Die Eisbahn steht heute nicht mehr, sie wurde bei einer anderen Tragödie in der Geschichte der Stadt, der Halifax Explosion, 1917 zerstört. "Und die MacKay-Bennett wurde 1962 abgewrackt", sagt Ruffman.
Die Kirchen, in denen Gedenkgottesdienste abgehalten wurden, können dagegen noch besucht werden. In der ältesten protestantischen Kirche Kanadas, der Saint Paul's Church in der Argyle Street wurde am 21. April 1912 ein Gedenkgottesdienst abgehalten, ein anderer für katholische Opfer in der Saint Mary?s Basilica. Die vielleicht traurigste Gedenkfeier aber wurde in der St. George?s Round Church veranstaltet.
© Nova Scotia Tourism
Grab für ein unbekanntes Kind.
Unbekanntes Kind
In dem hölzernen Rundbau fand sich die Besatzung der MacKay-Bennett ein, um dem "unknown Child", dem unbekannten Kind, das letzte Geleit zu geben. Die Crew hatte den Jungen, dessen Alter zunächst auf 9 bis 15 Monate geschätzt wurde, als eines der wenigen tot geborgenen Kleinkinder sechs Tage nach dem Untergang in einer Rettungsweste leblos treibend aus den eisigen Fluten gezogen. Erst vor wenigen Jahren wurde es mittels einer DNA-Analyse von Forschern der Lakehead University in Ontario letztlich als Sidney Leslie Goodwin aus England identifiziert.
Die braunen Lederschuhe des damals 19 Monate alten Jungen können heute hinter Glas in einer Titanic-Ausstellung im Maritime Museum of the Atlantic in Halifax betrachtet werden, wo auch ein Liegestuhl "als
© Stefan Weißenborn
2002 wieder aufgetaucht: die Schuhe des unbekannten Kindes.
Geballte Titanic-Kompetenz
"Wenn ich die Geschichten über die Titanic den Leuten erzähle, werden sie emotional - als wären die eigenen Verwandten an Bord gewesen." Bob Corkum, der regelmäßig Gäste durch die Ausstellungen des Museums führt, kann den Mythos Titanic nicht ganz verstehen. Er zieht die Augenbrauen hoch: "Denken Sie nur an die Wilhelm Gustloff. Bei der Versenkung des deutschen Flüchtlingsschiffes kamen 1945 über 9.000 Menschen ums Leben." Sechs Mal mehr als beim Untergang der Titanic.
Mit Alan Ruffman sitzt der Mann mit der Pfeife und den gelben Zähnen im Keller einer Studentenkneipe in Halifax bei Bier und Kabeljau. Die beiden zusammen bilden so etwas wie die geballte Titanic-Kompetenz der Stadt. Denn auch Garry befasst sich seit Jahren mit dem "Titanic Desaster". Als Archivar bei den Nova Scotia Archives, einer Unterabteilung des Amtes für kulturelles Erbe in Halifax, stellt er aus der Vergangenheit ins Jetzt gerettete Dokumente der großen Rettungsaktion von 1912 online. Listen der Geborgenen und Dokumente zu ihrer Identifizierung, Briefe, historische Fotos, die etwa die Bergungsaktionen auf See zeigen, Visitenkarten.
Die Frage der Schuld
"Als die Titanic unterging, wechselte die Hälfte des damaligen amerikanischen Vermögens den Besitzer." An Bord waren neben John Jacob Astor, dem damals reichsten Mann der Welt, auch andere steinreiche Unternehmer, darunter Benjamin Guggenheim, Entrepreneur aus Philadelphia, Charles Hays, Präsident der kanadischen Grand Trunk Railway und George Wright aus Halifax, in dessen ehemaligen Haus Shutlack heute wohnt. Sie alle ertranken. Nur Bruce Ismay, der Direktor der White Star Line, stahl sich in eines der Rettungsboote, obwohl galt "Frauen und Kinder zuerst." Er starb 1937.
Als hätte die Titanic erst gestern einen Eisberg gerammt: Bei der Frage, wer Schuld hatte an dem Untergang des Ozeanriesen, kommen sich die beiden Experten fast in die Haare. "Wenn Du jemanden die Schuld geben willst, dann gib sie der Funker-Crew, sie gaben die Eiswarnungen nicht an die Brücke weiter und waren nur mit den Telegrammen der Passagiere beschäftigt", sagt Shutlack. Ruffman widerspricht: "Eine Meldung erreichte sehr wohl den Kapitän, er hätte die Geschwindigkeit drosseln müssen."
Ob die Unglücksfahrt vor 100 Jahren einer einzigen Person angelastet werden kann? Dass sich der Fortgang der Dinge von den Menschen nach Belieben gestalten ließe, dieser Fortschrittsglaube fand nach Ansicht von Museumsführer Bob Corkum mit dem Untergang der Titanic ein abruptes Ende: "Manche sagen nicht ganz zu unrecht: Das 20. Jahrhundert hat nicht am 1. Januar 1900 begonnen, sondern am 15. April 1912."
AMERICA TIPPS
Titanic und Halifax
Informationen: Nova Scotia Tourism, Schwarzbachstrasse 32, 40822 Mettmann, Tel. 02104 - 79 74 54, www.novascotia.com, www.travelmarketing.de
Reisetipps zu Halifax: www.destinationhalifax.com
Material rund um die Titanic und Halifax gibt es auf http://titanic.gov.ns.ca/
Im Maritime Museum of the Atlantic in Halifax ist die ständige Ausstellung "Titanic: The unsinkable Ship and Halifax" zu sehen. Noch bis Oktober 2012 läuft die Ausstellung "Cable Ships" über die Kabellegeschiffe aus Halifax und ihre Bergungsarbeit auf See. http://museum.gov.ns.ca/mmanew
Vor dem Museum starten regelmäßig Doppeldeckerbusse zu ?Titanic?-Touren, Anbieter ist zum Beispiel Ambassatours Sightseeing (www.ambassatours.com). Die 75-Minuten-Tour mit Ziel Fairview Lawn Cemetery kostet 28 kanadische Dollar plus Tax.
Der Taschen Verlag bietet ein Titanic-Modell zum Selberbauen im Maßstab 1:1200, mit einer Gesamtlänge von 135 cm. ISBN 978-3-8365-3082-8, für 9,99 Euro.
Vorzügliche Fischgerichte können im Restaurant & Grill Five Fishermen verköstigt werden (www.fivefishermen.com). Die Verbindung zur Titanic besteht darin, dass im gleichen Gebäude einst das Bestattungsunternehmen John Snow & Co. Funeral Home untergebracht war. Hier wurden zwei Titanic-Opfer aufgebahrt: John Jacob Astor, einer der damals reichsten Männer der USA, und der kanadische Eisenbahnmogul Charles M. Hayes.
Das Bedford Institute for Oceanography (www.bio.gc.ca) vermittelt Besuchern in einer Ausstellung, wie das Wrack der Titanic in 3.800 Metern Tiefe heute aussieht.
© Text: Stefan Weißenborn
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