Buchtipp: Reise zu den First Nations
Der Journalist und Zeichner Joe Sacco tauchte tief in die Kultur der Ureinwohner in Kanadas Northwest Territories ein. Seine Graphic Novel wurde zu einem tiefgründigen Reportage-Krimi.
Männer beim Fischen: Mit vereinten Kräften ziehen sie mit Lachsen gefüllte Netze aus dem Fluss. Sie fällen Bäume, um mit Elchleder bezogene Kanus zu bauen. Jedes Jahr im Sommer trafen sich die Gruppen der Dene in einem großen Lager am Wasser zum Palavern und Feiern. Und im Winter verstauten sie ihre Habe auf Hundeschlitten und zogen tief in die Berge. „Man lernte dabei vor allem eines: Demut“, sagt Paul Andrew.
Der Ureinwohner erinnert sich an seine Kindheit, an das traditionelle Leben in der Wildnis – rau und ursprünglich, aber auch getragen von Zusammenhalt und Zufriedenheit. Der Journalist und Graphic Novelist Joe Sacco zeigt das traditionelle Leben der Dene in großen, ineinander fließenden Tableaus. Opulente, detailreiche Bilder mit feinem Federstrich, in denen man immer wieder etwas Neues entdeckt.
Szenenwechsel: Nun wird Joe Sacco selbst zum Protagonisten. Der gebürtige Maltese, der in den USA lebt und arbeitet, erzählt von seiner Reise in die Northwest Territories und von seinem Projekt, über die Dene zu berichten. In chaotisch angeordneten Panels zeigt er seine Fahrt über die Winterstraße durch ein geschundenes Land. Laster mit Chemikalien für die Fracking-Industrie kreuzen seinen Weg. Tradition und Moderne: In diesem Zwiespalt befinden sich die Ureinwohner des hohen Nordens – und nicht nur dort. Joe Sacco taucht in seiner Graphic Novel tief in das Thema ein, er trifft Stammesmitglieder, die aus ihrem Leben und über die Geschichte der Dene erzählen: von der Kolonisierung durch die Weißen, dem Ende der engen Beziehung zur Natur, dem Wandel von Selbstversorgern zu Unterstützungsempfängern.
Der „Tag, an dem das Flugzeug kam“, war ein Schlüsselmoment im Leben vieler Dene: Überall im Norden holten Männer und Frauen in Flugzeugen die Kinder der Ureinwohner ab, um sie in Residential Schools zu bringen, „Internate“ genannte Umerziehungslager, in denen sie von ihren Eltern, ihrer Sprache und Kultur entfremdet werden sollten – oft verbunden mit körperlichem, emotionalem und spirituellem Missbrauch. Joe Sacco legt den Finger tief in die offenen Wunden dieser Zeit, die bis heute nicht geheilt sind: Alkoholmissbrauch und hohe Suizidrate, häusliche Gewalt und Traumatisierung. Mehr als 6.000 Kinder starben damals an Krankheiten, Missbrauch und Vernachlässigung. Doch Sacco zeigt auch, dass alles zwei Seiten hat: So waren die Nonnen in den Internaten häufig von ihren Familien aufgegeben worden.
"Die Leute wurden von der Regierung aus der Wildnis geholt, ihre Kinder in Schulen gesteckt, sie ließen ihre Unabhängigkeit hinter sich und landeten in einer geldgesteuerten Wirtschaft ohne Jobs“, fasst der Dene-Unternehmer Wilard Hagen die Situation zusammen. Doch seitdem hat sich manches verändert: Die Dene erkämpften sich vor Gericht Landrechte und Teilhabe, zaghaft ist ein neues Selbstbewusstsein erwacht. „Wie kann man das Neue nutzen, ohne zu viel Schaden anzurichten“, fragt Joe Sacco vor dem Dilemma zwischen Beteiligung an der Ausbeutung der Natur oder der Rückkehr zum traditionellen Leben. „Gibt es das Beste aus zwei Welten?“ Er spricht mit einer Gruppe von Aktivisten, die städtisch aufgewachsen sind, aber jetzt wieder das Jagen und Gerben lernen und sich die Sprache ihrer Vorfahren aneignen.
„Einfach wieder Dene sein“, ist der Wunsch vieler aus der jungen Generation. Es herrscht Aufbruchstimmung, doch bevor ein echter Wandel möglich ist, müsse erst die ältere Generation abtreten – die Internatsgeneration voller Zorn, die bislang noch alle wichtigen Entscheidungen über die First Nation trifft, meint Joe Sacco. Seine Graphic Novel ist spannend, aber auch herausfordernd zu lesen. Mit Hilfe einer beeindruckenden Zahl von Interviewpartnern entwirft Sacco das komplexe Bild einer gespaltenen Nation. „Es war großartig, mit diesen Menschen zu sprechen. Ihnen ist sehr bewusst, wie groß dieser Konflikt ist. Und zugleich sind sie sehr entschlossen. Das macht mir Hoffnung bei der ganzen Geschichte“, sagte der Graphic Novelist in einem Interview.
INFORMATIONEN
Joe Sacco, Wir gehören dem Land, Edition Moderne, 256 Seiten, 25 Euro
Männer beim Fischen: Mit vereinten Kräften ziehen sie mit Lachsen gefüllte Netze aus dem Fluss. Sie fällen Bäume, um mit Elchleder bezogene Kanus zu bauen. Jedes Jahr im Sommer trafen sich die Gruppen der Dene in einem großen Lager am Wasser zum Palavern und Feiern. Und im Winter verstauten sie ihre Habe auf Hundeschlitten und zogen tief in die Berge. „Man lernte dabei vor allem eines: Demut“, sagt Paul Andrew.
Der Ureinwohner erinnert sich an seine Kindheit, an das traditionelle Leben in der Wildnis – rau und ursprünglich, aber auch getragen von Zusammenhalt und Zufriedenheit. Der Journalist und Graphic Novelist Joe Sacco zeigt das traditionelle Leben der Dene in großen, ineinander fließenden Tableaus. Opulente, detailreiche Bilder mit feinem Federstrich, in denen man immer wieder etwas Neues entdeckt.
Reise ins Fracking-Land
Szenenwechsel: Nun wird Joe Sacco selbst zum Protagonisten. Der gebürtige Maltese, der in den USA lebt und arbeitet, erzählt von seiner Reise in die Northwest Territories und von seinem Projekt, über die Dene zu berichten. In chaotisch angeordneten Panels zeigt er seine Fahrt über die Winterstraße durch ein geschundenes Land. Laster mit Chemikalien für die Fracking-Industrie kreuzen seinen Weg. Tradition und Moderne: In diesem Zwiespalt befinden sich die Ureinwohner des hohen Nordens – und nicht nur dort. Joe Sacco taucht in seiner Graphic Novel tief in das Thema ein, er trifft Stammesmitglieder, die aus ihrem Leben und über die Geschichte der Dene erzählen: von der Kolonisierung durch die Weißen, dem Ende der engen Beziehung zur Natur, dem Wandel von Selbstversorgern zu Unterstützungsempfängern.
Offene Wunden
Der „Tag, an dem das Flugzeug kam“, war ein Schlüsselmoment im Leben vieler Dene: Überall im Norden holten Männer und Frauen in Flugzeugen die Kinder der Ureinwohner ab, um sie in Residential Schools zu bringen, „Internate“ genannte Umerziehungslager, in denen sie von ihren Eltern, ihrer Sprache und Kultur entfremdet werden sollten – oft verbunden mit körperlichem, emotionalem und spirituellem Missbrauch. Joe Sacco legt den Finger tief in die offenen Wunden dieser Zeit, die bis heute nicht geheilt sind: Alkoholmissbrauch und hohe Suizidrate, häusliche Gewalt und Traumatisierung. Mehr als 6.000 Kinder starben damals an Krankheiten, Missbrauch und Vernachlässigung. Doch Sacco zeigt auch, dass alles zwei Seiten hat: So waren die Nonnen in den Internaten häufig von ihren Familien aufgegeben worden.
Landrechte und Teilhabe
"Die Leute wurden von der Regierung aus der Wildnis geholt, ihre Kinder in Schulen gesteckt, sie ließen ihre Unabhängigkeit hinter sich und landeten in einer geldgesteuerten Wirtschaft ohne Jobs“, fasst der Dene-Unternehmer Wilard Hagen die Situation zusammen. Doch seitdem hat sich manches verändert: Die Dene erkämpften sich vor Gericht Landrechte und Teilhabe, zaghaft ist ein neues Selbstbewusstsein erwacht. „Wie kann man das Neue nutzen, ohne zu viel Schaden anzurichten“, fragt Joe Sacco vor dem Dilemma zwischen Beteiligung an der Ausbeutung der Natur oder der Rückkehr zum traditionellen Leben. „Gibt es das Beste aus zwei Welten?“ Er spricht mit einer Gruppe von Aktivisten, die städtisch aufgewachsen sind, aber jetzt wieder das Jagen und Gerben lernen und sich die Sprache ihrer Vorfahren aneignen.
Am Ende bleibt Hoffnung
„Einfach wieder Dene sein“, ist der Wunsch vieler aus der jungen Generation. Es herrscht Aufbruchstimmung, doch bevor ein echter Wandel möglich ist, müsse erst die ältere Generation abtreten – die Internatsgeneration voller Zorn, die bislang noch alle wichtigen Entscheidungen über die First Nation trifft, meint Joe Sacco. Seine Graphic Novel ist spannend, aber auch herausfordernd zu lesen. Mit Hilfe einer beeindruckenden Zahl von Interviewpartnern entwirft Sacco das komplexe Bild einer gespaltenen Nation. „Es war großartig, mit diesen Menschen zu sprechen. Ihnen ist sehr bewusst, wie groß dieser Konflikt ist. Und zugleich sind sie sehr entschlossen. Das macht mir Hoffnung bei der ganzen Geschichte“, sagte der Graphic Novelist in einem Interview.
INFORMATIONEN
Joe Sacco, Wir gehören dem Land, Edition Moderne, 256 Seiten, 25 Euro
© Text: Oliver Gerhard